Eine Stimme, alt und atemlos
Philipp Wiebe
Ella Naujokat kauerte sich seufzend vor ihrem Dauerbrenner nieder und rüttelte am Rost; sie öffnete die Ofenklappe, sah die matte Glut und griff, während sie sich wieder aufrichtete, zur Kohlenschütte, stand unschlüssig, lächelte dann und kippte die Kohlen auf die Glut. „Ich kann es mir ja diesmal leisten. An diesem Heiligen Abend will ich es mal warm haben, rundherum warm!“ sagte sie und prüfte noch mal den Zustand ihres Zimmers: das Bett in der Ecke war sehr sorgfältig gemacht, unter der Spreite wusste sie Decke und Kissen frisch überzogen; der abgetretene Teppich machte einen vorzüglichen Eindruck, nachdem sie ihn gründlich mit Waschlauge gereinigt hatte; auf dem ovalen Mahagonitisch stand der zierliche Weihnachtsbaum, geschmückt mit Lametta, zwei Kugeln und fünf roten Kerzen. „Tadellos, alles tadellos…“ sagte Ella Naujokat, setzte sich in den grünen hochbeinigen Plüschsessel, blickte auf ihre Armbanduhr, murmelte: „Noch zwanzig Minuten…“ und legte für einen Augenblick die Hand auf die Brust, als wolle sie ihr aufgeregt klopfendes Herz beruhigen. Dann drehte sie an dem Knopf ihres alten Radios, wartete, bis sich die Röhren erwärmt hatten, griff mit tastender Hand von hinten in das Gerät hinein und rüttelte sanft an der Lautsprecherröhre. Mit Unterbrechungen zuerst, doch dann ganz gut verständlich sang ein Kinderchor: „… aus einer Wurzel zart…“ Ella Naujokat summte die Melodie mit, erhob sich aus dem Sessel, zündete die Kerzen an und löschte das elektrische Licht. Sie lebte allein, die Frau Naujokat, sie war 79 Jahre alt, und sie sprach gern ihre Gedanken laut aus. Oft hatte sie gedacht, es sei ein Fehler gewesen, aus der lebendigen Großstadt in diese langweilige Kleinstadt gezogen zu sein; doch nun hatte sie sich an die neue Umgebung gewöhnt, vor allem sagte sie sich: „Diese kleine Dachwohnung ist jedenfalls billig!“ Und das war schon ein triftiger Grund. Vor sechsundfünfzig Jahren hatte sie in einer modernen Villa gewohnt, nachdem sie den erfolgreichen Modemaler Max Naujokat geheiratet hatte. Achtzehn Jahre lebten sie X zusammen, dann starb Max. Er war in der letzten Zeit kein Modemaler mehr gewesen, und er hinterließ seiner Frau deshalb eine verschuldete Villa. Ella verkaufte sie und mietete eine Etagenwohnung. Bald war jedoch ihr letztes Geld verbraucht, und in ihrer Not schickte sie etliche Erzählungen, die sie im Laufe der Jahre zu ihrer Unterhaltung geschrieben hatte, an mehrere Zeitungen. Sie war sehr überrascht, als alle diese Erzählungen gedruckt wurden; ja, die Redakteure ermutigten sie sogar, weitere Arbeiten zu schicken; einer bat sie, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben; sie tat es, und die Geschichte wurde ein Erfolg. Im Jahr darauf baten sie fünf Zeitungen um Weihnachtsgeschichten. Schnell wurde sie jetzt bekannt, die Zeitungshonorare ermöglichten ihr ein fast sorgloses Leben. Es machte ihr Spaß, nur Schriftstellerin zu sein, sie war reich an Ideen, und bald erschien ihr erstes Buch unter dem Titel: „Ella Naujokats schönste Erzählungen“. In ihrem zweiten Buch legte sie ihre gesammelten „Weihnachtsgeschichten“ vor. Beide Bücher wurden von der Kritik gelobt, ein Herr Fechter schrieb sogar: „Hier reift ein Talent heran, das wahrscheinlich dereinst Seite an Seite mit Selma Lagerlöf stehen wird!“ Als Ella Naujokat ihren ersten Roman einem Verlag zuschickte, erhielt sie kurz darauf einen begeisterten Brief des Verlegers, und einen Monat später einen ablehnenden Brief desselben Verlegers: er bedauere es tief, aber die Zeiten hätten sich geändert; es gäbe jedoch eine Möglichkeit, den Roman herauszubringen, nämlich dann, wenn sie die Hauptfigur verändern würde; schließlich müsse das junge Mädchen ja nicht unbedingt Jüdin sein und Noemi heißen. Ella Naujokat machte von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch. Sie hatte sich nie viel um Politik gekümmert, doch dieses Erlebnis machte sie aufmerksam. Sie mochte nicht in einer Zeit schreiben, in der man Romanfiguren ändern sollte, nur weil die Regierung es so forderte. Um leben zu können, hätte sie vielleicht weiter schreiben müssen, doch sie wurde diesem Zwang enthoben: sie heiratete zum zweiten Mal, heiratete einen Redakteur, dessen Sohn aus erster Ehe 13 Jahre alt war. Einige Monate vor dem Krieg wurde ihr Mann von der Zeitung entlassen; er sagte ihr nicht den Grund für seine Kündigung, er hob nur mutlos die Hände, da wusste sie Bescheid. Schon dachte sie daran, abermals ihre Erzählungen den Zeitungen anzubieten, doch da brach der Krieg aus. Ihr Mann wurde eingezogen, wenig später ihr Sohn; beide kamen nicht aus Russland zurück. Drei Jahre nach dem Krieg entschloss sich Ella Naujokat, die Zeitungsredaktionen daran zu erinnern, dass sie noch lebte. Sie legte ihren Briefen Erzählungen und Rückporto bei. Doch die Redakteure antworteten: natürlich erinnere man sich ihrer, man sei erfreut, von ihr zu hören, aber leider seien ihre Erzählungen nicht mehr zeitgemäss; an neuen Arbeiten sei man hingegen sehr interessiert. Ella Naujokat erschrak, denn was sie angeboten hatte, waren nur neue Arbeiten gewesen. Sie las nun die Erzählungen und Romane jener Schriftsteller, deren Namen immer wieder rühmend erwähnt wurden. Sie versuchte, ähnlich zu schreiben, knapp, hart, realistisch, doch schließlich musste sie sich eingestehen, dass sie unfähig war, zeitgemäß zu schreiben. Sie gab ihre Großstadtwohnung auf und zog in die billige Dachwohnung. Hier konnte sie von ihrer Kriegerwitwen-Rente leben. Um die Einsamkeit zu vertreiben, schrieb sie weiterhin Erzählungen; immer noch strömten ihr neue Ideen zu, in der Schublade einer alten Kommode häuften sich die Manuskripte. „Das wird einmal ein Nachlass…“ sagte sie manchmal und lächelte in gelassener Selbstironie. Dann, in diesem Jahr, hatte sie einen schmalen eleganten Brief bekommen, der vom Sendeleiter einer Rundfunkanstalt stammte; der Sendeleiter schrieb: „Sehr verehrte gnädige Frau! Einer unserer älteren Kollegen brachte Sie uns wieder in Erinnerung, als wir auf einer Programm-Konferenz darüber berieten, was wir in diesem Jahr zu Weihnachten senden sollten. Wir tragen nun die Bitte an Sie, gnädige Frau, heran, eine Ihrer einst so beliebten Weihnachtserzählungen persönlich auf Band zu sprechen. Falls Sie damit einverstanden sind, lassen Sie uns bitte bald wissen, wann wir Sie mit unserem Aufnahmewagen besuchen dürfen.“ „Kommen Sie, wann es Ihnen passt. Ich bin immer zu Hause“, antwortete Ella Naujokat. Sie war sehr aufgeregt, als man das Mikrophon auf ihren ovalen Mahagonitisch stellte, aber der Aufnahmeleiter, ein junger, fröhlicher Mensch, verstand es, sie zu beruhigen. „Sie müssen das Mikrophon vergessen“, sagte er und fügte unter herzlichem Gelächter hinzu: „Es beißt Sie bestimmt nicht.“ Ella Naujokat schlug das alte abgegriffene Exemplar ihrer „Weihnachtsgeschichten“ auf und begann zu lesen; sie las mit sorgfältiger Betonung, so wie sie es tagelang vorher geprobt hatte. „Na, großartig!“ rief der Aufnahmeleiter hinterher und rieb sich die Hände. Und später, als er wieder im Aufnahmewagen saß, sagte er zu seinem Techniker: „Mensch, so ‚ne atemlose, etwas heisere Greisinnenstimme wird am Heiligen Abend gut ankommen.“ Die Kinder im Radio sangen jetzt: „…oh, kommet doch all…“ Es war 18.30 Uhr. Ella Naujokat wurde unruhig. „Vielleicht haben sie die Sendung gestrichen“, sagte sie. Doch als sie nach dem Brief suchen wollte, in dem ihr der Sendetermin bekanntgegeben worden war, verstummte der Chor, und eine Frauenstimme, der man anhörte, dass die Frau liebevoll lächelte, sagte an, wer da so schön gesungen hatte; dann machte sie eine kleine Pause und fuhr, immer noch lächelnd, fort: „Und nun liest Ella Naujokat eine ihrer Weihnachtsgeschichten: ,Der Gesang von Bethlehem’. Ella Naujokat war Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre in Deutschland eine bekannte Erzählerin. Heute lebt die Neunundsiebzigjährige zurückgezogen und einsam in einer Kleinstadt. Wir freuen uns, unsere Hörer mit ihrer wunderbaren Erzählung und ihrer Stimme bekanntmachen zu können.“ Ella Naujokat stützte den Kopf in die Hand; zum ersten Mal in ihrem Leben hörte sie ihre wahre Stimme. Sie war bestürzt, denn so alt, so atemlos, so heiser, so abgenutzt war ihr ihre Stimme nie vorgekommen. „Grässlich“, flüsterte sie, „ganz grässlich, so eine Stimme!“ Mitten in der Sendung schaltete sie das Radio aus. „Genug!“ sagte sie resolut, „eine so alte Frau sollte sich nicht im Radio produzieren!“ In den vergangenen Jahren hatte sie um diese Zeit alle Weihnachtslieder gesungen, die sie kannte. Jetzt jedoch wagte sie es nicht. „Mit solcher Stimme auch noch singen“, brummte sie. Sie goss sich einen Kognak ein und aß Marzipan dazu, Genüsse, die sie sich in diesem Jahr leisten konnte: der Rundfunk hatte 600 Mark überwiesen. Sie hing ihren Gedanken nach, malte sich aus, wie schön es sein würde, wenn wieder Geschichten von ihr in den Zeitungen abgedruckt würden… Vielleicht konnte sie dann wieder in die lebendige Großstadt ziehen … „Luftschlösser!“ sagte sie und schlug ärgerlich auf den Tisch. Gerade hatte sie die Kerzen ausgepustet, da schellte es. Sie ging zur Tür und drückte auf den Öffner. Menschen kamen die Treppe herauf, sie hörte unterdrückte Stimmen, die vor ihrer Tür verstummten. Sie öffnete und sah vier Kinder, deren Gesichter zu ihr emporlächelten. Sie kannte die Kinder, sie gehörten dem benachbarten Milchhändler. Eva, die Älteste, sagte: „Frohes Fest, Frau Naujokat. Wir haben Sie eben im Radio gehört. Wir wussten ja gar nicht, dass Sie eine Dichterin sind.“ „Und wie gut Sie vorlesen können“, sagte Günter. „Ja“, rief Fred, „Sie haben eine schöne Stimme zum Vorlesen!“ „Die Ansagerin hat gesagt, Sie seien einsam“, sagte Eva. „Und unser Vati meint, das sei eine Schande.“ „Ja, eine Schande!“ rief Gritta, das jüngste Kind. „Deshalb bitten Vati und Mutti Sie sehr herzlich, doch zu uns zu kommen und mit uns zu feiern“, sagte Eva. „Besonders schön wäre es, wenn Sie uns noch eine Ihrer Geschichten vorlesen könnten“, sagte Günter. Fassungslos nickte Ella Naujokat zu allem, was die Kinder sagten. Sie presste ihre Hände gegeneinander, um ihre Rührung meistern zu können; dann zog sie sich hastig den Mantel an, nahm das Buch, das vor vielen Jahren erschienen war, und kurz darauf saß sie vor einer bis an die Zimmerdecke reichenden Tanne, in der viele Kerzenflammen flackerten. Die Frau des Milchhändlers überreichte ihr einen Bunten Teller, der Milchhändler stellte ein Glas Moselwein vor sie hin, und die Kinder blickten sie erwartungsvoll lächelnd an. Sie las eine Geschichte vor. „Noch eine, bitte!“ riefen die Kinder. Und nach der zweiten musste sie eine dritte lesen. Ella Naujokat war eine bescheidene Frau, sie hatte sich mit ihrer Einsamkeit abgefunden und war zufrieden gewesen. Doch jetzt fühlte sie sich nach vielen Jahren wieder glücklich. Wenn sie die Augen hob, sah sie die versunkenen Kindergesichter, und sie vergaß vollkommen, dass sie vor kurzer Zeit noch behauptet hatte: „Grässlich, ganz grässlich, so eine Stimme!“
Kurtmartin Magiera (Hrsg.): Die Nacht im Dezember – Texte zur Geburt des Herren o. O. , 1968, Butzon & Bercker