Das Wunder von Jasina
Eine Weihnachtsgeschichte am Heiligen Abend vor vielen, vielen Jahren schneite es in Jasina so sehr, dass von einigen Häusern nur noch die rauchenden Schornsteine herausragten. Die Schornsteine sahen wie winzige Zwergenhäuser aus. Es fror so stark, dass die Tannenzapfen von den Bäumen fielen. Wer konnte, blieb lieber zu Hause. Die Hunde dösten selig hinter dem Ofen. Wenn sie Lust auf einen kleinen Spaziergang bekamen, begannen die Flöhe in ihrem Fell zu heulen vor Angst. Mit dünnen Stimmchen baten sie ihre Gastgeber doch lieber in der warmen Stube zu bleiben. »Einverstanden«, gähnten die Hunde. »Aber ihr dürft uns auch nicht beißen!« Die Flöhe versprachen brav zu sein. Auch die Katzen ließen sich auf einen Handel ein.
Die Mäuse in ihren Löchern hörten alles mit an und versprachen ihrerseits, heute nicht auf den Speck zu springen und die Pfoten vom Käse zu lassen. So gelang es dem Frost wenigstens an Weihnachten Frieden unter Hunden, Flöhen, Katzen und Mäusen zu stiften. Mitten im Dorf lag ein Weiher. Um ihn herum drängten sich vier Kirchen, doch keine von ihnen hatte eine Uhr. Auch Glocken hingen in keinem der Türme. Damit die Leute überhaupt wussten, wann sie frühstücken, Mittag essen und Abendbrot nehmen sollten, schlug man dreimal am Tag mit einem Kartoffelsack auf die Wasseroberfläche. Doch jetzt, da der Weiher gefroren war, wusste niemand so recht, wie spät es war. Es wurde weder richtig hell noch richtig dunkel. A »Sollen wir noch im Bett bleiben oder ist es schon Zeit aufzustehen?«, fragten die Leute verwirrt. Die Kinder hingegen hätten sich auf dem gefrorenen Weiher gerne vergnügt. Doch da Schuhe damals eher eine Seltenheit waren, konnten sie davon nur träumen. Als man nicht einmal mehr die Eiszapfen vor den eigenen Fenstern erkennen konnte, schlossen die Leute daraus, dass die Nacht hereingebrochen war. Sie setzten sich an die festlich gedeckten Tische. Einige waren so reich, dass sie ein kleines Stückchen Zucker in ihrem Tee zergehen lassen konnten. Die meisten mussten sich aber wie üblich mit einem Teller Knoblauchsuppe begnügen.
Dann wurden Kartoffeln aufgetischt. Sie schmeckten wie die erlesensten Leckerbissen. Wer es sich leisten konnte, genehmigte sich dazu ein wenig Schmalz. Es war eine arme Gegend. Man musste auch mit dem Salz sparen. Einzig der Nachtwächter war draußen. Er hatte einen dicken Pelzmantel an. Wären da nicht die Wollhandschuhe gewesen, hätte man ihn für einen Bären gehalten. Von Zeit zu Zeit blies er in ein Horn um böse Geister zu vertreiben. Damals glaubte man noch an Gespenster. Beispielsweise wollte niemand ein schwarzes Huhn haben, weil es angeblich Unglück brachte.
Der Nachtwächter gab vor allem Acht, ob es nicht irgendwo brannte. Vor Dieben fürchtete sich hier fast niemand, da es ja doch nichts zu stehlen gab. Er zottelte in seinem Bärenpelz dreimal um den Weiher herum. Er schaute in jede der vier Kirchen hinein. Alles schien in Ordnung zu sein. Es fiel Schnee, in den Kaminen heulte der Wind und der Nachtwächter hatte Mühe die Augen offen zu halten. Er lehnte sich an eine Wand um ein bisschen zu dösen. Jasina liegt inmitten tiefer Wälder und hoher Berge in der Westukraine. Der Ort erinnert an eine Zündholzschachtel, die jemand auf einem Tisch vergessen hat.
Wer das wohl gewesen sein mag? Jedenfalls war die winzige Schachtel nun beinahe ganz unter dem Schnee verschwunden. In jener Zeit waren die Bewohner von Jasina so kunterbunt gemischt wie in einem Zirkus. Nebeneinander lebten hier Rutenen, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Ukrainer, Deutsche und Rumänen. Jeder redete in seiner Sprache und ging in seine Kirche. Die Katholiken in die katholische, die Orthodoxen in die orthodoxe, die Protestanten in die protestantische, die Juden in die jüdische.
Alle aber hofften sie, dass sich der liebe Gott eines Tages wieder an sie erinnern würde und es ihnen dann wenigstens ein kleines bisschen besser ginge. Alle hatten sie ein paar Wörter der Sprache des Nachbarn gelernt um sich mit ihm verständigen zu können. Sie wussten, dass Brot, pâine1, chleba2, kenyér3 und chlib4 das Gleiche bedeuten. Auch das Wort Armut kannten sie in jeder der Sprachen: sârâcie1, chudoba2, szegénység3, bidnis4. 1: Rumänisch, 2: Slowakisch, 3: Ungarisch, 4: Ukrainisch Außerhalb von Jasina lagerten ab und zu fahrende Zigeuner. Sie waren noch ärmer als das ganze Dorf zusammen. Sie schliffen Messer und Sensen, sie wussten, wie man ein Loch in einem Blechtopf flickte, und einem Pferd neue Hufeisen zu verpassen war für sie eine Kleinigkeit. Einige der ältesten Zigeunerinnen beherrschten die Kunst, den Leuten die Zukunft aus der Hand zu lesen.
Wenn sie gerade nichts zu essen hatten, saßen sie um das Feuer herum und machten die wunderbarste Musik. Weil sie der Hunger plagte, war ihr Gesang oft traurig. Auch das Pferd, das den Planwagen zog, musste sich manchmal anstelle von Heu mit einem Liedchen begnügen »Besser als gar nichts,« dachte sich das Pferd dann. In jener Heiligen Nacht war einem der Zigeuner so fürchterlich kalt, dass er in einen fremden Hühnerstall zu dem Federvieh kroch. Er steckte seine Hände unter die Flügel einer Henne und wärmte sich die Finger im warmen Gefieder. »Wen haben wir denn da?«, gackerte das verschlafene Huhn. »Ich bin’s! Dein Küken!«, piepste der Zigeuner listig. Beruhigt schlief die Henne wieder ein. Dem Zigeuner wurde es so wohl zumute, als wären zumindest seine Finger bereits in den Himmel gekommen. »Te džanela menuš, kaj perela, o phusa odoj lačkarela«, sagte er zufrieden auf Zigeunerisch. »Übernachte dort, wo du von der Nacht eingeholt wirst.« Der Nachtwächter zündete sich genießerisch eine Pfeife an. Er möchte sie sehr, die Pfeife.
Seine Frau war schon vor langer Zeit gestorben und seine Kinder waren auf der ganzen Welt verstreut. Die Pfeife hielt er für seinen einzigen wahren Freund. Manchmal erzählte er ihr von seinen Freuden und Leiden, als ob sie ein lebendiges Wesen wäre. »Der Schnee scheint nachzulassen«, bemerkte er weise. Die Pfeife sagte nichts. Tatsächlich trieb der Wind die Wolken auseinander. Der Nachtwächter zählte schnell die Sterne am Himmel nach, ob auch keiner in der Zwischenzeit verloren gegangen war.
Er war ein kluger Mann. Einige Dorfbewohner trauten ihm sogar zu, den Lehrer in der Schule vertreten zu können. Der Nachtwächter konnte zwar nur bis fünf zählen, wenn er aber dort angekommen war, fing er einfach wieder von vorne an, so dass ihm nie ein Fehler unterlief. Manchmal gab er den Sternen Namen wie den Kühen. »Schecke! Gehörnte! Du mit dem langen Schweif!«, rief er zum Himmel. Aber die Sterne benahmen sich wie die Pfeife. Sie sagten nichts. Da erschien unerwartet ein neues Sternchen am Horizont.
Anfangs war es winzig klein und sah eher wie ein Lichtfunken aus. Dieses Sternchen war nie zuvor da gewesen, da war sich der Nachtwächter vollkommen sicher. Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. »Was wird das sein?«, wunderte sich der weise Mann. Das Seltsamste aber war, dass sich das neue Sternchen bewegte. Es wurde unaufhaltsam größer und größer, und es kam direkt auf den Nachtwächter zu. »Pfui!«, machte er und spuckte erschrocken aus. Er überlegte, ob es nicht ein Irrlicht war, und bekam es mit der Angst zu tun.
»Oder der Teufel höchst persönlich?«, fragte er seine Pfeife. Es war jedoch weder ein Sternchen noch ein Gespenst, sondern eine brennende Kerze. Ein Mädchen hielt sie in der Hand. Eigentlich war es schon eine junge Frau. Der Nachtwächter sah, dass sie ein Kind erwartete. Sie hatte schon einen runden Bauch. »Wer bist du?«, fuhr der Nachtwächter die junge Frau an. »Mirjam«, antwortete sie leise. Mirjam bedeutet auf Jiddisch dasselbe wie Maria. Der Nachtwächter verstand, dass das Mädchen Jüdin war. Außerdem bemerkte er, dass sie am Hals anstelle eines Kreuzes einen winzigen jüdischen Kerzenständer trug. »Wozu trägst du die Kerze herum?«, bohrte er weiter. »Damit ich den Weg sehe.« »Es ist klüger tagsüber spazieren zu gehen.« »Die Kerze wärmt meine Finger.« »Hinter dein Ofen friert man nicht«, murrte der Nachtwächter. »Wenn ich die Flamme sehe, komme ich mir nicht so einsam vor.« Mirjams Stimme klang traurig, als sie das sagte. »So, so«, bemerkte der Nachtwächter. »Und wo gehst du hin?« »Ich suche einen ruhigen Ort, um mein Kind zur Welt zu bringen«, flüsterte Mirjam. »Bei so einer Hundekälte willst du ein Kind in die Welt setzen?!«, sagte der Alte verärgert und zog wieder an seiner Pfeife.
»Hast du den Verstand verloren? Was streifst du mitten in der Nacht hier in den Wäldern herum? Was, wenn dich die Wölfe fressen? Und wo ist überhaupt dein Mann?« Mirjam ließ wortlos den Kopf sinken. »Kannst du nicht antworten?«, wetterte der Nachtwächter. Aber Mirjam schwieg. Es war ihr Geheimnis. Schon verschwanden die Sterne wieder hinter den Wolken und dicke Schneeflocken fielen herab. Das Mädchen zitterte vor Kälte. »Was nun?«, fragte der Nachtwächter. »Vielleicht könnte ich hier im Dorf übernachten?« fragte Mirjam schüchtern. »In einem Stall? Oder auf einem Heuboden?« »Unmöglich! Wirklich unmöglich!«, entschied der Ordnungshüter. Und ihm fiel noch etwas ein: »Du konntest das ganze Dorf in Brand stecken!« »Aber ich weiß nicht, wohin ich gehen soll«, sagte Mirjam schwach.
Sie weinte beinahe. »Am besten gehst du wieder nach Hause«, schlug der Nachtwächter vor. »Ich habe kein Zuhause«, sagte Mirjam. »Rede doch nicht solchen Unsinn!«, erboste sich der AIte. »Jeder Mensch wohnt doch irgendwo.« Mirjam schwieg. »Na, sprich doch endlich!«, befahl der Nachtwächter ungeduldig. Mirjam senkte wieder den Kopf. Auch das war ihr Geheimnis. »Also, ich muss jetzt gehen,« sagte der Nachtwächter und wandte sich ab. »Gibt es denn niemanden, der mir helfen kann?«, rief Mirjam ihm hinterher. Der Mann blieb stehen. Mit dieser Frage hatte er nun nicht mehr gerechnet. Was sollte er tun? Ob er dem Mädchen seine geliebte Pfeife schenken sollte, damit es einen Gefährten hätte? Doch da kam ihm die rettende Idee. »Der liebe Gott wird dir helfen!«, sagte er und ging. Aus der Dunkelheit hallte noch eine Weile der Klang seines Hornes. Es klang jetzt richtig gespenstisch. Der Nachtwächter war kein böser Mensch. Auch dumm war er nicht. Meistens sah er weit über seine Nasenspitze hinaus. Aber so etwas war ihm in seinem Leben noch nicht passiert. Mirjam ging langsam zwischen den Häusern entlang. Sie schnupperte den Duft von gekochten Kartoffeln. Hätte ich doch wenigstens eine einzige heiße Kartoffel, wünschte sich Mirjam. Auf dem Kamin eines der Häuser saß eine Eule. Sie plusterte ihre Federn auf.
Ihre Augen strahlten in der Dunkelheit wie glühende Kohle. Wäre ich doch eine Eule, dann könnte ich mich am Schornstein wärmen, dachte Mirjam. Der Schneesturm wurde wieder heftiger. Unbarmherzig blies der Wind die Kerze aus und so blieb Mirjam ganz allein zurück. Sie irrte zwischen den Häusern umher und wusste nicht wohin. Da tauchte vor ihr ein hell erleuchtetes Fensterchen auf. Wie verlockend es doch in der Dunkelheit strahlte! Sie trat näher heran und versuchte hineinzuschauen. Es saßen Leute am Tisch, um eine gemeinsame Schüssel herum, und schlemmten. Liebevoll lächelten sie sich an. Es schienen gute Leute zu sein. »Hier wird man mir sicher helfen«, freute sich Mirjam.
Sie klopfte an das Fensterchen. Zuerst ganz scheu, dann etwas stärker. Sie wollte auch etwas rufen, aber aus ihrem vor Kälte starren Mund klang es eher wie das Heulen des Windes. Als sie zum dritten Male klopfte, schauten die Leute auf. »Jemand steht am Fenster«, sagte der Bauer. »Das kommt dir nur so vor«, entgegnete die alte Frau. »Aber ich habe eine menschliche Stimme gehört«, wunderte sich der Bauer. »Da heult bloß der Wind!«, sagte die alte Frau und winkte ab. »Vielleicht braucht da jemand unsere Hilfe?« »Um diese Zeit sollten alle zu Hause sein.« »Vielleicht ist irgendwo ein Unglück passiert.« »Es könnten auch Räuber sein«, warnte die alte Frau. Schließlich aber zog sie ihren alten Mantel über und machte einen Schritt vor die Haustür. Dort riss der Wind an ihr und vor ihren Augen sah sie nichts als wildes Schneetreiben. Nach und nach erkannte sie jedoch eine Gestalt in der Dunkelheit. Die alte Frau erschrak. »Wer ist da?«, rief sie barsch um sich Mut zu machen. »Ich«, sagte Mirjam. »Was suchst du hier?«, fragte die Alte.
Aber Mirjam wusste nicht mehr, was sie sagen wollte. Irgendetwas hinderte sie daran, die Alte um Hilfe zu bitten. »Wissen Sie, wo der liebe Gott wohnt?«, fragte Mirjam schließlich und ihre eigenen Worte überraschten sie. Auch die Alte hatte mit dieser Frage nicht gerechnet. »Was soll denn das?«, gab sie unwirsch zurück. »Ich würde gerne mit ihm sprechen«, sagte Mirjam. Die alte Frau wich einen Schritt zurück. »Mit Gott reden? Du bist wohl verrückt geworden. Glaubst du, der hat Zeit für dich? Und was willst du überhaupt von ihm?« »Der Nachtwächter sagte, dass mir der liebe Gott helfen wird.« »Sicher, im Himmel wird man dir helfen«, meinte die Alte. »Aber von uns kannst du nichts erwarten.Wir sind selber arm. Wir haben nichts. Und außerdem feiern wir gerade Weihnachten. Heiligabend, das Fest der Liebe und der Barmherzigkeit! Da bleibt keine Zeit für euch Bettler!« »Aber ich erwarte ein Kind«, sagte Mirjam. »Ein Kind?«, wiederholte die Alte verlegen.
»Es kommt heute Nacht zur Welt.« Die alte Frau zögerte einen Moment, aber dann zischte sie: »Das hättest du dir früher überlegen sollen!«, und schlug die Türe zu. »Wer war das?«, wollte der Bauer wissen. »Irgendeine verlogene Bettlerin streunt hier herum«, antwortete die Alte und setzte sich wieder an den festlich gedeckten Tisch. Es wurde immer kälter. Mirjam schleppte sich mühsam durch das schneeverwehte Dorf. Da erblickte sie wieder ein leuchtendes Fenster vor sich. Es strahlte wie ein Hoffnungsschimmer in die dunkle Nacht. Sie nahm allen Mut, der ihr noch geblieben war, und klopfte mit den gefrorenen Fingern gegen die Scheibe. Sogleich war ein dicker, bärtiger Mann zur Stelle. Er war der reichste Bauer im Dorf. Ständig lebte er in der Angst, dass ihm Diebe sein Hab und Gut stehlen könnten. Er fürchtete auch, dass irgendeine freche Maus an seinem Speck nagen könnte. In der einen Hand hielt der Bauer eine heiße Kartoffel, in der anderen ein gebratenes Hähnchen. Als er Mirjam erblickte, machte er ein böses Gesicht. Er hatte keine Lust sich auf ein Gespräch einzulassen. »Was wollen wir denn hier? Hä?«, schnaubte er verächtlich. Vor Wut standen ihm die Haare zu Berge. »Ich friere«, flüsterte Mirjam.
»Und heute Nacht soll mein Kind zur Welt kommen.« »Sie mal einer an!«, sagte der Fettwanst und spuckte in den Schnee. »Bitte helfen Sie mir!« Der Mann riss entgeistert den Mund auf. »Wie könnte ich dir schon helfen?!«, rief er. »Lassen Sie mich in die Wärme hinein? Bitte«, flehte Mirjam. Der Mann verschluckte sich fast, als er das hörte. »Was sagst du da?!«, rief er aus. »Ist das etwa mein Kind? Nein. Geh weg. Für dich ist hier kein Platz. Bei dem starken Frost musste ich schon alle meine Schafe hereinnehmen. Das Schwein und die Kuh auch! Das Haus ist voll. Soll ich deinetwegen etwa mein Vieh frieren lassen?« Der Fettwanst verschwand im Haus. »So ein Blödsinn«, murmelte er in seinen Bart. »Ein Weib mit Kind!« Mit der Kartoffel in der Hand klopfte er seiner Kuh auf den Rücken. Die Kuh jedoch schlug ihm mit dem Schwanz über die Finger, als müsste sie eine lästige Fliege verjagen. Mirjam klopfte erneut an das Fenster. Die Türe öffnete sich einen Spalt breit und der Fettwanst streckte seine Nasenspitze in die Kälte. »Du schon wieder?«, bellte er zornig. »Könnten Sie mir wenigstens verraten, wo der liebe Gott wohnt?«, fragte Mirjam verzweifelt. Kaum hatte sie das ausgesprochen, wunderte sie sich wieder über diese seltsame Frage.
»Bist du blöd oder was?« Der Fettwanst lachte dröhnend. »Jedes Kind weiß, dass der liebe Gott im Himmel wohnt!« Er schüttelte den Kopf und schloss die Türe. Sicherheitshalber schob er noch eine schwere Truhe davor. Zufrieden setzte er sich darauf und machte sich endlich über seine heiße Kartoffel her. »Hier kommt mir kein lieber Gott rein«, dachte er und schmatzte laut. »Und Bettler schon gar nicht.« In der Hose des Fettwanstes lebte ein winziger Floh. Er hatte alles mit angehört. Ihm war dabei schwer ums Herz geworden.
So eine Schande! Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie es war, wenn ein kleines Flohkind zur Welt kam. Wie gerne hätte der Floh Mirjam geholfen! Er wusste nur nicht wie. Er schrie laut um Hilfe, verfluchte die Unbarmherzigkeit seines Wirtes, aber niemand hörte es. Wer scherte sich schon um die Meinung eines kleinen Flohs, wen kümmerte es, wie ihm in seinem Herzen zumute war? Darum biss er den Fettwanst wenigstens kräftig in den Hintern. Aber der Fettwanst bemerkte nichts. Er fühlte nichts. Weder Freude noch Mitleid, und Schmerz schon gar nicht. Die Bewohner von Jasina legten sich schlafen. Auch der Schneesturm beruhigte sich langsam. Über der verschneiten Landschaft ging ein silberner Mond auf. Der hungrigen Mirjam kam er wie ein leerer Teller vor. Der Schnee glitzerte im Mondlicht. Um den zugefrorenen Weiher standen jetzt gleich acht Kirchen herum: Vier am Ufer wie üblich und vier weitere spiegelten sich auf der Eisfläche, die der starke Wind blank geputzt hatte. Wie in einem Märchen sah es aus. Es schien nur, dass auch die Kirchlein sich vor Kälte ducken mussten. Mirjam betrat zuerst die jüdische Synagoge. Es war dunkel. Über eine Bank hatte jemand einen Gebetsschal geworfen. Der Durchzug bewegte ihn leicht hin und her. Spielte da ein Unsichtbarer mit dem Schal? »Ist da wer?«, flüsterte Mirjam schüchtern. Niemand antwortete ihr. Nur ihre Stimme hallte durch den leeren Raum. Jetzt, wo weder Gott noch Menschen da zu sein schienen, wurde einem bange. »Lieber Gott! Bist du hier? Wie soll ich denn zu dir in den Himmel hinaufkommen?«, hauchte Mirjam.
»Hörst du mich?« Sie bekam nur unendliche Stille zur Antwort. Eine Kirche nach der anderen suchte sie auf, aber der liebe Gott antworten ihr in keiner. »Er ist wohl nicht zu Hause«, dachte Mirjam traurig, »oder er ist schon schlafen gegangen.« Schließlich machte sich Mirjam auf den Weg in die Berge. »Dort, wo die Bergspitzen den Himmel berühren, werde ich dem lieben Gott wohl am nächsten sein«, dachte sie.
»Vielleicht schaut er zufällig aus dem Fenster und sieht mich. In den Bergen war es noch viel kälter als unten im Tal. Hier oben leuchteten die Sterne und der Mond zwar heller, aber ihr Licht wärmte Mirjam auch nicht. Die wenigen Bäume waren zu Eis gefroren, überall lag glitzernder Schnee. »Lieber Gott, hörst du mich?«, fragte Mirjam hoffnungsvoll, als sie oben angekommen war. Aber niemand antwortete, nur unten im Tal heulte eine Eule.
Mirjam fand einen halb zerfallenen hölzernen Unterschlupf, wo Hirten bei Unwettern im Sommer Schutz suchten. Gemütlich war es nicht gerade, aber besser als nichts. Mirjam legte sich auf den kalten Boden. Sie hüllte sich in ihr Tuch und weinte leise. Sie fürchtete sich davor, das Kind inmitten von Schnee, Frost und Wind zur Welt zu bringen. »Sollte der liebe Gott jetzt aufwachen und zufällig aus dem Fenster schauen, sieht er auf dem Schnee statt eines Mensehen bloß einen kleinen, schwarzen Punkt«, dachte Mirjam besorgt. Da kam plötzlich jemand duch den Schnee gestapft. Es war Giuseppe, ein ausgedienter italienischer Soldat. Vor Jahren hatte er in einem Krieg ein Bein verloren. Für seinen Mut und seine treuen Dienste hatte man ihm eine blecherne Medaille verliehen. Das war nicht allzu viel. Er bekam damals noch ein hölzernes Bein als Ersatz. Das Bein war zwar nicht so schön wie das ursprüngliche, aber er konnte wenigstens damit laufen.
Das Schönste an dem Holzbein war, dass es ihm nie wehtat. Die Medaille verkaufte er. Was sollte er auch damit anfangen? Man hätte sie ihm nur noch stehlen können. Für das Geld schaffte er sich eine Drehorgel an. Oben drauf bekam er noch einen alten, mürrischen Affen. Giuseppe, bei uns würde man Josef sagen, wanderte nun in der Welt herum und spielte Lieder auf seinem Leierkasten. Hunger und Frost war er gewöhnt, sie waren seine ständigen Begleiter. »Wer weint denn hier?«, fragte Giuseppe mitfühlend.
Er sah Mirjam zusammengerollt auf dem Boden liegen. Und er begriff sofort, dass bald ein Kind zur Welt kommen würde. »Allora! Na dann!«, sagte er leise. Der alte Soldat stellte keine Fragen. »Du kleines Schäfchen!«, sagte er bloß, nahm ein wenig Holz vom Verschlag und entfachte schnell ein Feuer. In seinem alten Blechkessel schmelzte er Schnee zu Wasser. Dann machte er für Mirjam ein gemütliches Nest aus seinem Mantel, in dem er einst all die berühmten Schlachten durchgestanden hatte. Es windete allerdings ein wenig hinein, weil der Stoff von Kugeln durchlöchert war. Aber Mirjam fühlte sich wohl in Giuseppes Mantel. Als das Kind geboren war, half Giuseppe Mirjam und wusch das Neugeborene. »Es ist ein Junge!«, meldete er fröhlich und legte Mirjam ihren Sohn in die Arme. »Che bello! Hübsch ist er!« Da lächelte Mirjam. Das hatte sie schon lange nicht mehr. Das erste Lächeln schenkte sie ihrem Kindlein. Das zweite ging an Giuseppe. »Wer bist du?«, fragte sie gerührt. »Etwa der liebe Gott selbst?« Giuseppe gab eine Lachsalve ab. »Nein!«, sagte er. »Peccato.
Leider nicht. Ich bin nur Drehorgelspieler und heiße Giuseppe.« Auch jetzt wurde Giuseppe nicht neugierig. Er wusste, dass jeder Mensch seine Geheimnisse hat. Verriet er sie, waren es keine Geheimnisse mehr. Miriam war ihm dankbar dafür. »Danke«, sagte sie einfach. »Gern geschehen«, sagte Giuseppe. Hätte Gott jetzt aus dem Fenster geschaut, hätte er drei glückliche Menschen gesehen. Das Feuer brannte langsam nieder. Giuseppe verfütterte nach und nach das ganze Holz. Es gab nichts mehr zum Nachlegen. Bald würden Mirjam und das Kind wieder frieren! »Wir müssen was unternehmen!«, sagte sich Giuseppe. Der Affe war derselben Meinung. Als Giuseppe auch noch das allerletzte Stückchen Holz verfeuert hatte, kratzte er sich nachdenklich am Kopf. Schließlich atmete er tief durch und schnallte sein Holzbein ab. Liebevoll betrachtete er es ein letztes Mal, bevor er es in die Glut warf. Da begannen unglaubliche Dinge zu geschehen.
Das Feuer brannte immer weiter, gab Wärme, obwohl niemand mehr Holz nachlegte. Und Giuseppe bemerkte verblüfft, dass plötzlich sein altes Bein wieder da war, so wie früher. Als wäre ein Wunder geschehen. Er konnte es kaum glauben. »Ma! Wer weiß!« Zur Sicherheit kniff er sich hinein. »Aua!«, schrie er. »Das tut weh! Das Bein ist aus Fleisch und Blut!« Vor Freude begann er zu tanzen. Die Sterne schauten gespannt auf das, was da unten vor sich ging. Aus ihrer himmlischen Tiefe näherte sich ein großer goldener Stern mit einem Schweif. Er blieb über Mirjam und Giuseppe stehen, so als ob er sie schützen wollte.
Die Drehorgel spielte, obwohl niemand an der Kurbel drehte. Aus dem Wald zottelte ein Bär herbei. »Solltest du nicht deinen Winterschlaf abhalten?«, fragte Giuseppe erstaunt. Der Bär brummte freundschaftlich. In seinem dicken Pelz sah er ein wenig wie der Nachtwächter aus, es zeigte sich aber, dass der Bär ein wesentlich freundlicheres und fröhlicheres Geschöpf war. Er ließ sich an Mirjams Lager nieder und wärmte mit seinem heißen Atem das Kind. Der Affe gesellte sich zu ihm. Es sah nun ein wenig wie im Stall zu Betlehem aus, nur dass nicht Esel und Ochse, sondern ein Bär und ein Affe an der Krippe standen. Über Giuseppes Kopf war ein seltsamer Lichtkreis aufgegangen. Es sah ganz wie ein Heiligenschein aus. Giuseppe war gar nicht glücklich darüber, er mochte diesen hellen Glanz über ihm nicht. Er hatte Angst, dass jemand denken könnte, er wolle ein Heiliger sein. Aber wenn er seinen Hut aufsetzte um den Lichtkreis zu verdecken, tauchte das verflixte Ding nach einer Weile wieder über dem Hut auf. Der Affe war stolz auf seinen Meister. Schon lange wusste er, dass Giuseppe der beste Mensch auf Erden war.
Der Zigeuner, der sich die Hände in dem fremden Hühnerstall gewärmt hatte, wachte am frühen Morgen auf. E hatte einen merkwürdigen Traum gehabt. Hals über Kopf sprang er auf und wirbelte eine Wolke von Hühnerfedern auf, die an ihm hängen blieben. So stürzte er zum Lagerfeuer, und hätte er auch noch Flügel gehabt, wäre er einem Engel zum Verwechseln ähnlich gewesen. »Wacht auf, Brüder!«, rief er den dösenden Zigeunern zu. »Da oben in den Bergen ist ein Kind geboren!« »Na und?«, gähnte der älteste von ihnen. »Nane čhave, nane bacht. Kein Kind, kein Glück.« »Ich habe geträumt, es sei unser neuer König.
Er braucht unsere Hilfe.« »Das ist etwas anderes«, nickte der Alte. Ohne zu zögern machten sich die Zigeuner auf den Weg hinauf in die Berge. Gleich hinter dem Dorf trafen sie auf zwei Gendarmen. Die Ordnungshüter schauten sich misstrauisch das Huhn an, das der gefiederte Zigeuner vergessen hatte loszulassen. »Was trägt denn der Herr da an den Händen?«, fragte der eine Gendarm schlaum. »Ein Huhn«, sagte der Zigeuner. Der andere Gendarm war noch pfiffiger. »Woher hat der Herr es denn?«, wollte er wissen.
»Ich habe es mir im Hühnerstall ausgeborgt«, erklärte der Zigeuner. Die Gendarmen schauten sich an, setzten kluge Gesichter auf und nickten. »Der Herr wird uns begleiten müssen«, sagten sie dann und legten dem Zigeuner Handschellen an. »Ich bin unschuldig!«, rief er. »Das glauben alle Hühnerdiebe«, sagten die Gendarmen und führten ihn ab. Dem Huhn war das alles gleichgültig. Es schlief noch immer selig. »Gebt ihnen einen Schuss Schnaps, damit ihnen warm wird«, rief das Großväterchen gutmütig, als die Zigeuner oben bei der Familie ankamen. Giuseppe nahm einen kräftigen Schluck. »Der war für dich, cara Maria!«, erklärte er Mirjam. Dann setzte er die Flasche erneut an. »Der war für mich.« Schließlich leerte er die Flasche ganz. »Und der hier für das Kindlein, damit es lange lebe.« Die Wahrsagerin schaute sich die Händchen des Kindes an. »Er hat lange Finger«, bemerkte sie zufrieden. »Er wird ein guter Geigenspieler werden. Wessen Sohn ist er?«, fragte sie. Mirjam schwieg. Es sollte ihr Geheimnis bleiben. »Dann ist er also Gottes Sohn, wenn er sonst keinen Vater hat«, entschied die Zigeunerin. Dann verkündete sie feierlich: »Du wirst David heißen, was so viel wie Liebling bedeutet.« »Aber nennen werden wir dich Bumbi, weil es besser von der Zunge geht«, entschied das Großväterchen. »Dieses Kindlein wird nie stehlen, weil es das nicht nötig haben wird«, sagte die Zigeunerin feierlich voraus. » Alles auf der Welt wird ihm gehören. Er wird so viel haben, dass er teilen wird.
Er wird so viel teilen, dass alle alles haben werden, niemand wird jemand anderen beneiden.« »Und es wird genug für morgen übrig bleiben!«, wusste das Großväterchen. Dann setzten sich alle um das Lagerfeuer. Kurz darauf kamen drei kleine Mädchen mit einem Regenschirm vorbei. Sie waren auf dem Weg zur Kirche gewesen, zur Frühmette, aber als sie den goldenen Stern mit dem Schweif sahen, mussten sie nachsehen, was da oben in den Bergen los war. Damals war ein Regenschirm eine große Seltenheit. Alle beneideten sie um das Prachtstück. Als die Mädchen das Kind erblickten, dachten sie, es sei das Christkind. Sie schenkten ihm den Regenschirm, weil er das Allerschönste war, was sie besaßen. Der Schirm bot der Familie Schutz vor dem neuen Schnee. Die Mädchen knieten nieder und beteten wie in der Kirche. Sie kicherten nicht einmal und machten auch keinen anderen Unsinn. Inzwischen sprach es sich in Jasina herum, dass in den Bergen ein Wunder geschehen war.
Es hieß, ein König sei dort geboren! Die Ungarn, Rumänen, Deutschen, Tschechen – alle, die in dem Dorf lebten – zogen sich schnell über, was ihnen gerade in die Hände fiel, und eilten statt in die Kirche zu Mirjam, Giuseppe und dem Kind. Der Nachtwächter rannte auch mit und blies unterwegs laut vernehmlich in sein Horn. Schafe, Kühe und Pferde, Hunde, Katzen und Mäuse und natürlich auch die Flöhe kamen hinterdrein. Als sie alle oben waren und den Bären, den alten Affen, den italienischen Drehorgelspieler mit dem Heiligenschein über dem Kopf, die jüdische Frau und auch den Regenschirm sahen, fielen sie auf die Knie und jeder betete in seiner eigenen Sprache. Und falls es irgendwo da oben wirklich einen lieben Gott gab, verstand er sicher jedes Wort. Der Einzige, der nicht gekommen war um das neugeborene Kindlein zu bewundern, war der Fettwanst.
Er saß noch immer zu Hause hinter seiner Türe und fraß. Wenn jemand an die Tür klopfte, öffnete er nicht. Niemand in Jasina wusste, wie es ihm ergangen war. Sie dachten, er hätte zuerst alle Hühner verschlungen. Danach die Schafe und das Schwein. Es war nicht auszuschließen, dass er am Ende auch die Kuh verspeist hatte. Auf jeden Fall muss er so dick geworden sein, dass er nicht mehr durch die Türe passte. Niemand vermisste ihn. Sogar der kleine Floh verließ seine Hose. Vielleicht sitzt der Fettwanst noch immer allein in seinem Haus. Zum Schluss kamen auch die zwei Gendarme zu Mirjams und Giuseppes Lager. Sie führten den Zigeuner mit, der ihrer Meinung nach das Huhn gestohlen hatte. »Wo kommt denn der goldene Stern mit dem Schweif her?«, fragte der eine Gendarm streng. »Schau mal, dort drüben liegt das Christkind!«, flüsterte ihm der andere Gendarm ins Ohr. Auch sie begriffen jetzt, dass ein Wunder geschehen war. Sie waren sehr gerührt und knieten sich ebenfalls in den Schnee. Der eine Gendarm schenkte Giuseppe eine Prise Pfeifentabak. Der andere schenkte Mirjam das Huhn. »Es wird Eier legen für euch«, sagte er gutmütig. Dem Zigeuner, der noch immer wie ein Engel aussah, nahmen sie die Handschellen ab. So konnte er nach der Geige greifen und spielen. Und er spielte so schön, dass alle heute noch lauschen würden, hätte er nicht aufgehört.
Petr Chudozilov; Jindra Capek: Das Wunder von Jasina – eine Weihnachtsgeschichte. Aarau, Sauerländer, 1999