Über das Ziel hinaus
Er musste immer wieder zu ihr hinsehen. Sah sie an und dachte, komm, nimm endlich deine Augen von dem Buch und gib mir einen einzigen Blick. Tatsächlich hob sie in diesem Moment den Kopf, sah einen Augenblick lang aus dem Fenster, um sich dann sofort wieder in das Buch auf ihrem Schoß zu vertiefen.
Die Straßenbahn fuhr laut auf den Gleisen und die wenigen Fahrgäste saßen — bis auf ein älteres Pärchen —jeweils einzeln auf den Doppelsitzen. Niemand sprach ein Wort. Nur ein Automat rief rechtzeitig den Namen der nächsten Haltestelle auf.
Gern wäre er aufgestanden, um sich neben sie zu stellen. Vielleicht hätte ein Blick genügt, um herauszufinden, welcherart ihre Lektüre ist. Er stellte sich vor, auf einen gängigen Namen zu stoßen, wie Tonio Kroger oder Myschkin oder auf eine Namensabkürzung wie K. oder C., um auf dieser leichten Fährte rasch einen Anlass für ein Gespräch zu finden.
Doch stieg keine Schar älterer Frauen ein, denen er ungezwungen hätte seinen Sitzplatz anbieten können. Auch hatte er nicht den Mut, einfach aufzustehen und sich auf den freien Platz neben sie zu setzen. Also blieb ihm nichts weiter übrig, als seinen Blick auf sie zu richten und diesem so viel Suggestionskraft wie möglich beizugeben.
Sieh auf, sieh zu mir, bat die Stimme in seinem Kopf. Und er betrachtete ihr wirres rastalockiges Haar, das an einer Stelle von einem Zopf zusammengehalten wurde, in den bunte Bänder eingeflochten waren. Ihr Gesicht, das von den Stirnhaaren etwas verdeckt wurde, war schmal und dunkel, und nur wenn sie für einen Moment den Kopf hob, vermochten ihre Augen Helligkeit zu verströmen.
Vielleicht liest sie ein fremdsprachiges Buch, dachte er mit einem Mal, und ist nur zu Besuch hier oder auf dem Weg zum Bahnhof, wie er, der dort auf eine andere
Straßenbahnlinie umsteigen wollte. Sie würde den Zug nehmen und sich hunderte oder tausende Kilometer entfernen.
Er streckte den Kopf aus und konnte auf dem Sitz neben ihr oder zu ihren Füßen keine Reisetasche oder ähnliches entdecken. Die Straßenbahn näherte sich dem Bahnhof, ohne dass sie Anstalten machte, ihren Platz zu verlassen. Nur einmal huschten ihre Augen durch die Bahn; und er hatte das Gefühl, dass sie für einen Moment auf ihn gerichtet waren.
Die Tür in seiner Nähe sprang auf. Er zögerte. Was jetzt? dachte er. Wenn ich aussteige, sehe ich sie gewiss nicht wieder. Und wenn ich sitzenbleibe, wird sie es wirklich bemerken?
Einige Passanten stiegen am Hauptbahnhof ein und die Bahn füllte sich. Er hatte Mühe, sie im Blick zu behalten, rutschte auf seinem Platz hin und her und schließlich auf den Sitz nebenan, weil ein schmaler Mann mit einem breitkrempigen, auffälligen Hut ausgerechnet den Platz vor ihm einnahm und ihm die Sicht versperrte.
Das Mädchen schaute von ihrem Buch auf, sah ihn unvermittelt und, wie ihm schien, eine Ewigkeit lang an.
Er merkte nicht, dass die Ewigkeit nur wenige gefahrene Meter anhielt. Denn schon bremste die Straßenbahn ab und fuhr in die nächste Haltestelle ein. Das Mädchen versenkte ihren Blick wieder im aufgeschlagenen Buch, und er fand Gefallen daran, sie ohne jedes Wiederwegsehenmüssen mit einem ausdauernden Blick zu betrachten.
Dann wurde es mit einem Mal laut. Vier jungenhafte Männer mit kurzgeschorenen Schädeln brachen wie Jungbullen, denen das Tor zur Tränke geöffnet wurde, in die Bahn. Einer von ihnen griff sofort nach der Kopfbedeckung des vor ihm Sitzenden, nahm sie ihm vom Kopf und setzte sich unter dem Jubel der anderen den breiten Hut mit den bestickten Bändern auf.
Die anderen Glatzköpfigen riefen dem Hutträger zu: »Zu mir, zu mir!« und streckten die Hände aus. Dieser ließ den Hut durch die Bahn segeln und rief: »Fangt ihn euch.« Einer der Glatzen schnappte danach und das Spiel wiederholte sich. Jetzt riefen die anderen, »zu mir, eh, zu mir«, bis schließlich die Begeisterung nachließ und der Hut auf allen vier Kahlschädeln gelandet war.
Der Besitzer des Hutes hatte keinerlei Anstalten gemacht, dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Anfangs war er noch bemüht darum, dem Hutflug mit seinen Augen zu folgen. Doch als er sehen musste, welche Blessuren der Filzhut zu überstehen hatte, zog er seinen Kopf zurück und verbarg ihn zwischen seinem hochgestellten Mantelkragen.
Der junge Mann, dessen noch seidener Blickkontakt zu dem Mädchen mit einem Mal wie eine Spinnwebe zerrissen war, ertappte sich, wie er, von seinem Sitz wegrückend, versucht war, seinen Körper hinter dem nunmehr barhäuptigen großschädligen Mann zu halten.
Für die Meute der Glatzen, die wie eine Kette mit gleichen Gliedern über den Gang verteilt war, galt der Spaß als verbraucht, und das eben noch heftige Gelächter verebbte. Der Hut lag am Boden, ohne dass ihn einer der Fahrgäste zur Kenntnis nahm oder sich gar nach ihm bückte. Man vermied jede Bewegung, um nicht von den Glatzköpfen bemerkt zu werden.
Die Straßenbahntüren sprangen an der nächsten Haltestelle auf. Den großschädligen, nun hutlosen Mann hielt es nicht länger auf seinem Sitz. Fast unbemerkt hatte er den Türöffner betätigt, um mit einem Satz, gleich mehrere Stufen nehmend, der Bahn zu entkommen.
Jetzt saß der junge Mann ziemlich schutzlos der im Gang stehenden Horde gegenüber. Die Fahrgastreihen hatten sich gelichtet.
Das Mädchen, gleichfalls versucht, nicht aufzufallen, drückte förmlich ihre Augen auf die aufgeschlagenen Seiten des Buches. Da zerriss ein lautes »Oi« die künstliche Stille im Wagen. Einer der Glatzen war auf das Mädchen zugesprungen und hatte ihr das Buch entrissen. »Was liest denn die Kohle da!« rief er und warf das Buch einem anderen Glatzkopf zu. Dieser fing es auf und bemerkte nach einem kurzen Blick auf den Titel: »Psychokacke, damit wisch ich mir nich mal ’n Arsch ab.« Schließlich streckte er das Buch dem hageren blassen Mann zu, der schwarze Reiterhosen und ein schwarzes Uniformhemd und im Gegensatz zu den anderen eine gescheitelte Frisur trug.
»Nehmen wir die uns mal ran«, sagte plötzlich einer und ging mit einem seiner Kumpane auf das farbige Mädchen zu.
Der junge Mann konnte nicht sehen, was die beiden vorhatten, sie standen unmittelbar vor dem Mädchen und verdeckten sie mit ihren Körpern. Dass sie versuchen würden, sie zu begrapschen, konnte er nur ahnen. Auf jeden Fall war ihm klar, dass er dem Mädchen beistehen musste. Er überlegte und sah sich die Typen an. Mit dem Hageren waren es fünf. Die vier Glatzen sahen nicht aus, als würden sie mit sich reden lassen. Oft genug hatte er davon gehört, dass diese Leute einfach kurzen Prozess mit ihnen missliebigen Personen machen und sie in solchen Situationen kurzerhand und nicht selten bei voller Fahrt aus der Straßenbahn werfen.
Des jungen Mannes Augen suchten die des Hageren. Dieser sah steif in die andere Richtung, als wüsste er, dass in seinem Rücken bald schon ein Schrei zu hören sein würde.
Und tatsächlich schrie das Mädchen: »Pfoten weg! Ihr Schweine!«
Der junge Mann erschrak. Jetzt, jetzt muss ich handeln, sagte er sich. Und wieder suchten seine Augen das Augenpaar des Hageren.
Einer, das Mädchen bedrängend, rief in die Runde: »Hält mal einer die Pfoten von diesem schwarzen Vieh, das schlägt um sich und kratzt.« Schon traten die übrigen Glatzen hinzu. Ein Pulk aus Bomberjackenarmen und Stiernacken tat sich vor den Augen des jungen Mannes auf.
Er erhob sich und spürte sofort sanften Druck, der ihn auf den Sitz zurückpreßte.
»Du willst doch nicht etwa so unarisch sein und diesem Stück Scheiße helfen?«
Der junge Mann blickte in das makellose Gesicht des Hageren, der auf ihn aus undurchdringlichen Augen herabsah.
Was tun die, was tun die ihr an, schoss es ihm durch den Kopf, und er schaute sich in der Straßenbahn um. Die zwei Frauen hinter ihm lenkten ihren Blick angestrengt nach draußen.
Und auf der Seite, auf der der Hagere stand, saß einzeln ein vielleicht dreißigjähriger Mann mit ziemlich breiten Schultern.
Ich und er, dachte der Jüngere und sah Bilder von einem wirbelnden Bud Spencer vor sich und wusste doch sofort, dass er nicht im mindesten so gebaut und nicht einmal halb so mutig war, um als Supermann zu agieren.
Was aber tun? Die Frage brannte sich in seinem Schädel fest. Der Bud-Spencer-Typ nahm keinerlei Notiz von ihm oder der Nötigung des Mädchens in seinem Blickfeld, sondern stierte blicklos in die Luft.
Den jungen Mann hielt es nicht länger auf seinem Sitz; er riss seinen Körper hoch und sein Arm hangelte sich in Richtung Notsignal. Schnell, ehe es einer von denen sieht. Der Fahrer muss eingreifen, dachte er, und endlich die Polizei rufen.
Der Hagere schlug ihm mit dem Buchrücken auf die ausgestreckte Hand und sprach: »Du machst dich unglücklich. Wenn du das tust, brechen sie dir alle Knochen.«
In dem Moment hörte er ein Schluchzen und einer der Typen fuchtelte mit einem kleinen, spitzenbesetzten Büstenhalter wie mit einer Trophäe herum.
Den jungen Mann hielt es nicht mehr in seiner Sitzreihe. Ohne jede Vorwarnung trat er flink auf die vier Männer zu, zog einen der halbnackten Arme aus dem Pulk, streifte schnell den Ärmel der Bomberjacke hoch und rief mit schneidender Stimme: »Stopp! Lasst das Mädchen los. Wenn ihr nicht augenblicklich aufhört und verschwindet, beiß ich in den Arm hier. Ich habe Aids.«
Der untersetzte Skinhead, dem dieser Arm gehörte, wagte nicht, sich zu rühren. Ihm trat der Schweiß aus und lief an den Schläfen herab. Der junge Mann ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er blitzschnell in die bloße Haut beißen würde.
Die drei anderen waren ein Stück zurückgetreten und hatten von dem Mädchen abgelassen.
Die Bahn hielt und die Tür ging auf.
»Lass uns abhauen«, sagte einer der drei. »Ist mir sowieso zu heiß mit der Kohle, die ist doch sicher auch nicht clean.«
»Hast recht«, zischte ein zweiter, und auch der dritte und vierte waren bemüht, ihre Erleichterung nicht erkennen zu lassen.
»Was is nu?« fragte der Glatzkopf, dessen Arm der junge Mann immer noch in Beschlag hatte.
»Erst steigen die anderen aus, dann du«, bestimmte dieser. Und tatsächlich sprangen die drei ab, noch ehe sich die automatischen Türen wieder schließen konnten. Der Hagere blieb im Türrahmen stehen, drehte sich um und spuckte die Worte »Zecke, wir kriegen dich!« aus.
Als der Fahrer abklingelte, schubste der junge Mann den untersetzten Skinhead auf die Straße. Die Bahn schloss sich, einer der fünf donnerte mit einem seiner Springerstiefel gegen die Tür.
Fahr endlich, dachte der junge Mann, ja nicht noch mal anhalten, und atmete auf, als die Straßenbahn ruckelnd anfuhr.
Mit einem Mal applaudierten die beiden älteren Frauen, und die übrigen Fahrgäste stimmten in den Beifall ein, auch der kräftige Dreißiger auf dem Fensterplatz.
»Großartig, das haben Sie großartig gemacht, junger Mann!« »Ja, prima! Sie sind ein Held!« Und alle, mit Ausnahme des Mädchens, klatschten noch einmal kräftig in die Hände.
Der junge Mann stand neben dem Mädchen, das ihren Büstenhalter in einen kleinen Rucksack zwängte, und wusste nicht, was er sagen sollte. Eigentlich hätte er sich jetzt neben das Mädchen setzen können, doch er blieb stehen.
Das Mädchen knöpfte sich die Bluse zu und wich seinem Blick aus.
Und als er es sich anders überlegt hatte und sich doch setzen wollte, rückte sie von ihm ab.
»Und du hast wirklich Aids?« fragte sie.
Der junge Mann hob die Schultern, sah das Mädchen an und nickte plötzlich.
Karlhans Frank (Hrg.): Menschen sind Menschen. Überal.
München: C. Bertelsmann Verlag, 2002